Isolation macht erfinderisch: Der Schwarzwald als Wiege kreativer Köpfe ist „in“ und „en vogue“
Die kleine Sägemühle am Hintertalbach markiert die Abzweigung, an der es Richtung Hübschental geht. Ab hier ist die schmale Waldstraße nur noch für Anlieger frei. Sie windet sich entlang des Hübschentalbachs leicht, aber stetig ansteigend den Hang hinauf. Dichte Nadelwälder wechseln sich ab mit lichtem Bergmischwald, Viehweiden und Mahdwiesen. Hier ein einzeln stehendes Gehöft, dort ein Haus am Wegrand – auf anderthalb Kilometer Strecke kommen gerade einmal vier Häuser. Dann eine scharfe Kurve, ein letzter Steilanstieg, und man ist da. Die großformatigen Bildtafeln am Fuß der Böschung lassen keinen Zweifel: Hier liegt „Artwood Black Forest“, Hof, Heimat und Atelier des Schwarzwälder Modemachers, Künstlers und Fotografen Jochen Scherzinger.
„Es ist mein Elternhaus. Ich bin hier aufgewachsen“, begründet der Hausherr die versteckte, abseits allen Großstadtgetümmels gelegene Standortwahl für sein „Headquarter“, wie er es nennt. „Zum Arbeiten brauche ich meine Ruhe.“ Die findet er hier auf knapp 1.000 Höhenmetern und halber Strecke zwischen Gütenbach und Furtwangen. Zumindest, wenn gerade keine Kundschaft da ist. Denn die kommt in aller Regel persönlich vorbei und überzeugt sich gerne vor Ort von der Arbeit und den Werken, die hier entstehen. 2012 hat alles angefangen – mit viel Mut und Leidenschaft für Mode. Jochen Scherzinger gründete sein eigenes Label. Bollenhut-Maidle und Schwarzwald-Buben auf Shirts, Hoodies und Caps. Typisches Schwarzwälder Trachten-Klischee, crazy aufgepeppt und stylisch verarbeitet, trifft auf jugendlich-flottes Design – gewollt pixelige 8Bit-Männchen im Stil von Computer-Smileys inklusive. Selbstbewusst drein blickende Models mit Tattoos und Piercings posieren für seine Bildvorlagen in traditionellen Kostümen, lassen sich zusammen mit Schwarzwälder Kunst und Handwerk ablichten. Daraus entstehen auf Leinwand oder stark nach Rauch riechendem, geschwärztem Holz, Glasplatten oder ganzen Türen, Toren und mannshohen, wetterfesten Aluminiumtafeln einzigartige Kunstwerke. Jedes Stück ein Unikat. Das liegt schon am verwendeten Material, das er dem verlassenen Hof seines Großvaters entnimmt. Und der Hype findet kein Ende.„Ain’t no touri shit“ steht auf dem T-Shirt, das Jochen Scherzinger trägt. Zur Inspiration für seine Entwürfe sagt der Allrounder, der von sich selbst behauptet, er habe sich nie als Künstler bezeichnet: „Der Schwarzwälder will ja nicht unbedingt das tragen, was der Touri trägt. Aber der Touri will das tragen, was der Schwarzwälder trägt.“
Mit etwas Fantasie lässt sich leicht nachvollziehen, wie es sich im Schwarzwald noch vor rund 200 Jahren lebte: Einsame Höfe, einzeln und verstreut liegend und über weite Flächen verteilt, dazwischen schier endloser, tief-dunkler Wald. Kein Strom, wenig Licht, aber viel Schnee in den harten Monaten des Winters. Abgeschnitten von der Außenwelt, allein gelassen mit sich und dem Hof. Da waren Kreativität und Einfallsreichtum gefragt. Was da war, war viel Holz – zum Heizen, Kochen und Räuchern, aber eben auch, um daraus an langen, kalten Winterabenden Schnitzkunst wie Krippen und Figuren zu fertigen. Dazu kamen geniale Einfälle wie die Kuckucksuhr oder – im Zuge der Entwicklung der Glaserei – die Christbaumkugel und das Trinkglas. Es wurde Schnaps gebrannt, Schinken geräuchert und Obst eingelegt. Und auch die Kleider und Schuhe fertigte man oft in unzähligen Arbeitsstunden von Hand.
Heute zeigen sich findige Schwarzwälder nicht weniger kreativ. Nur haben sie Wege gefunden, die altbekannten Klischees zu entstauben und auf ein neues Level zu heben. Der Schwarzwald ist wieder „in“ und „en vogue“. Nur zeigt er sich eben in einer Vielfalt an neuen Gesichtern – jung, schräg, modern und alles andere als langweilig.
Kreative Köche, Bäcker und Konditoren, Chocolatiers und Berufs- oder Hobby-Destillateure bereichern die kulinarische Vielfalt gerne mit Lokalcolorit. Da werden wieder – wie einst zu Großvaters Zeiten – Tiere, die ihr Leben im Freien auf extensiv bewirtschafteten Weiden verbrachten, als Ganzes im Online-Crowdfunding verkauft und in der Küche verarbeitet. Es zählen Klasse vor Masse und Regionalität vor Exotik. Kirschwasser wird mit Sahne verheiratet, die Schwarzwälder Kirschtorte mit Mousse-au-Chocolat kombiniert oder als Kuchen in der Dose angeboten. Der Christstollen wird zum Kirschstollen und bekommt einen Bollenhut aufgesetzt. Aus spanischen werden Schwarzwälder Tapas, aus Fichtennadeln Gelee und Badezusätze – undaus handgepflückten WeißtannenspitzenSchwarzwälder Limonade in Bio-Qualität.
Die Zutaten für ihr alkoholfreies Erfrischungsgetränk mit dem schönen Namen „Tannenliebe“ sammeln Louisa Sawatzki undLucaPresentatowild und von Hand – und natürlich in enger Absprache mit dem Forstamt. Dann wird nach einem alten Rezept unter Verwendung von Schwarzwälder Tannenhonig, Rübenzucker und Zitronensäure ein Sirup hergestellt, der sich früher schon in der Naturheilkunde bewährt hat. Und schließlich verkaufen die beiden ihr nachhaltiges Produkt auch gleich im eigenen Geschäft nebst Café und Sonnenterrasse, dem „Sonnengereift“ im Freiburger Stadtteil Wiehre.
Andere Tüftler und Handwerker fertigen Schwarzwälder Bauernhäuser als Miniaturmodelle. Kuckucksuhren kommen im völlig neuen, modernen Design daher. Und auch die Handy-Hülleund das Laptop, das Fahrradoder Skateboard werden von kreativen Köpfen inzwischen aus Schwarzwälder Holz angefertigt.
So zum Beispiel hat sich das Breisacher Start-Up Unternehmen Midokiauf die Fertigung exklusiver und individualisierbarer Smartphone-Hüllen aus Holz spezialisiert. Dazu verwendet es Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft und graviert die Hüllen per Laser unter anderem mit heimatverbundenen Motiven wie Hirschen und Rehen oder bekannten Freiburger Symbolen wie der Blauen Brücke, dem Bächleboot oder dem Wasserschlössle. Über den online-Shop kann der Kunde aber auch jedes beliebige Motiv per Foto einscannen und daraus seine ganz individuelle Hülle anfertigen lassen.
Coole Bretter aus original Schwarzwälder Holz, auf denen man guten Gewissens und nach Herzenslust boarden kann, gibt es unter dem Label „Hackbrett Longboards Freiburg“ im Layback Skateshop in der Schopfheimerstraße. Inhaber und Firmengründer Hartmut „Hack“ Olpp weiß, was Einsteiger, Hobby-Skater, Freestyle-Freaks oder Downhill-Profis an Brettern und Ausrüstung benötigen, um nicht nur in jeder Straßenlage und auf der Rampe eine gute Figur, sondern darüber hinaus auch ein Herz für die Region, den Schwarzwald und die Umwelt zu zeigen. Bei ihm können Skater auf einem „Schwarzwälder Schinken“ oder „Himmelreich“ die Straßen und Parks erobern. Hack war jahrelang Downhill-Profi und fuhr Rennen auf selbst gebauten Longboards. Heute gibt er sein Wissen und Können, aber auch seine Fertigkeit in der Entwicklung und Konstruktion sowie im Bau von Brettern weiter an seine Kunden. In seinem Shop mit Werkstatt baut er zusammen mit seinem Kollegen Patrick „ein paar Hundert Bretter im Jahr“, wie er sagt. 500 unterschiedliche Varianten haben die beiden auf Lager. Ob Snowboard, Longboard, Cruising- oder Street-Brett – alle sind sie aus mehreren Lagen hochwertigem Schwarzwaldholz gefertigt.
Aus original Schwarzwälder Hartholz verschiedener Baumarten entwerfen und drechseln Alexander Ortlieb und sein Team alles, was es im Ladengeschäft gleich neben der Werkstatt in Bernau zu kaufen gibt. Ob Schale, Schüssel oder Salatbesteck, Pfeffermühle, Vase oder Kerzenständer, Miniaturhaus aus Altholz oder Handschmeichler und Kunstobjekt für die Deko: Jedes Teil ist ein handgefertigtes Unikat. Zu finden sind die Produkte nur im eigenen Laden, im Fachhandel und auf dem Weihnachtsmarkt in Bernau.
Auch aus Altholz lässt sich jede Menge Neues zaubern. Die Emmendinger Werkstatt „ALT. HOLZ. GARAGE“ fertigt unter dem Label „Da Heim“ in ihrer umfunktionierten Garage allerlei Schönes und Nützliches für die Wohnung, für Hochzeiten, fürs Geschäft oder die urig eingerichtete Kneipe aus Schwarzwälder Altholz. Ob Wandverkleidung, Sitzmöbel, Wohnaccessoire oder Vogelhaus – alles verwendete Material stammt vom Abriss alter Scheunen aus der Region oder Resten von Bauholz. Daraus zimmern Jan Knopp und sein Team individuell mit dem Kunden abgesprochene Unikate aus Holz – so einzigartig wie deren Ursprung, und stets mit Zertifikat.
Um den wertvollen Rohstoff „Holz“ und die Bäume an sich zu schützen und dort zu vermehren, wo es am Dringendsten ist, hat sich Chris Kaiser, Gründer der Initiativen „Food for Future“ und „Click a Tree“, etwas ganz Besonderes ausgedacht: Durch den Verzehr eines ausgewählten Gerichts in einem der kooperierenden Betriebe unterstützt der Gast das Pflanzen eines Baums, und das mit gerade einmal fünf Euro Einsatz. Als Lilia und Michael Abbey vom Freiburger Waldrestaurant St. Ottilien davon erfuhren, waren sie sofort Feuer und Flamme. Inzwischen ist auch der Freiburger Weinhandel Marco Kromer Wein und Kunst mit einem eigens gestalteten Wein mit von der Partie. Die Liste der Partner wird immer länger. Und nachdem zunächst der Schutz ärmerer Länder im Fokus stand, soll es in absehbarer Zeit auch erste Projekte in Deutschland, vielleicht ja bald auch im Schwarzwald geben.
Und auch zum Anziehen eignen sich Motive aus dem Schwarzwald heute in nie gesehener Vielfalt. In der Marke „Schwarzwald“ steckt anscheinend noch immer ungeahntes Potential. Und in den Köpfen so mancher Tüftler erwacht längst tot geglaubtes zu erfrischend neuem Leben.
Bildquellen
- Luca & Louisa von „Tannenliebe“: Foto: Reinhold Wagner
- Der Schwarzwälder Modemacher, Künstler und Fotograf Jochen Scherzinger: Foto: Reinhold Wagner