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„Oberrheingeschichten“ von Manfred Bosch

Dass die Geschichten von Schriftstellern oft Ergiebigeres über die Zeit, in der sie lebten, aussagen können als die offizielle Geschichtsschreibung es vermag oder zulassen möchte, zeigt einmal mehr dieses süperbe Lesebuch. Der Schriftsteller und Literaturhistoriker Manfred Bosch ist als Herausgeber der „Oberrheingeschichten“ ein besonderer Glücksfall. Ist er doch ein ausgewiesener Kenner und Schilderer der Zeit- und Literaturgeschichte des deutschen Südwestens, wofür ihm u.a. der Bodensee-Literaturpreis (1978 und 1997) sowie der Johann-Peter-Hebel-Preis (1990) verliehen wurde. Bosch hat ungemein profunde Werke wie über die „Boheme am Bodensee“ und „Alemannisches Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur“ geschrieben. Außerdem begründete er 1980, in Zeiten zunehmenden regionalen Selbstbewusstseins, die Kultur- und Literaturzeitschrift „Allmende“. Sie enthält noch zu hebende Schätze, zumindest was den Zeitraum betrifft, in dem Bosch federführend war und ihm Mitstreiter wie Martin Walser, Ulrike Längle, Matthias Spranger, Andre Weckmann, Adolf Muschg sowie andere Frauen und Männer des Worts zur Seite standen.

Der Tübinger Literaturverlag Klopfer & Mayer hat es sich zur Aufgabe gemacht, die gesamte Landkarte Baden-Württembergs literarisch abzustecken. Ein schönes, begrüßenswertes Projekt, Den bereits erschienenen „Schwarzwaldgeschichten“, „Albgeschichten“ und „Bodenseegeschichten“ folgten zuletzt die „Oberrheingeschichten“, Ein besonderes Verdienst dieser Textsammlung ist es nun, dass sie nicht nur die badische Seite des Oberrheingebiets abdeckt, sondern dezidiert grenzüberschreitend die internationale Gesamtheit einer alten, trotz aller Verwerfungen der Geschichte zusammenhängende Kulturregion im Herzen Europas erfasst, Bosch verweist mit dieser wohl einzigartigen Literaturlandschaft gleichzeitig auf eine besondere politische „Katastrophenzone Europas“, in der nicht zufällig eine ausgeprägte Protestkultur, die von den Salpeterern des Hotzenwalds bis zu den Atomkraftgegnern von Whyl reicht, Tradition hat. Über einschlägige Literaturbeispiele von mehr oder weniger bekannten Autorinnen und Autoren wird mit den „Oberrheingeschichten“ ein Bogen von einem weit zurückliegenden historischen Raum bis in unsere Tage geschlagen. Aber mehr noch: Was sich heute endlich als eine intakte „Brückenlandschaft“ darstellt, birgt zudem eine zukunftsweisende europäische Dimension in sich.

Ein Nachwort des Herausgebers macht diese Tragweite erst zur Gänze deutlich. Auf wenigen Seiten versteht es Bosch zu vertiefen, was er zuvor mit einer Vielzahl von Texten aus fünf Jahrhunderten zwischen Humanismus und Moderne als „Versuch einer knappen literatur-historischen Skizze“ aufgefächert hat. Die aus seiner Sicht „wenigen Striche und Tatbestände“ sind auf fünf Kapitel verteilt und folgen dankender weise keiner strengen Chronologie, sondern bündeln Themenbereiche in spannender Abfolge. Die Überschriften geben deutlich vor, was sich in den einzelnen Textgruppen widerspiegelt: „Landschaften, Städte“, „Lebenswelten“, Impressionen von Besuchern „auf Durchreise“, „Querelles allemaniques“ sowie „Identität und Wandel“. Erinnert wird daran, dass mit Erasmus von Rotterdam der Oberrhein zur Wiege des Humanismus wurde, Wickram hier seine Schwanke, Grimmeishausen den „Simplicissimus“ und Pfeffel seine Fabeln schrieb, Dass in Straßburg durch Goethe, Herder und Lenz der „Sturm und Drang“ begründet wurde, Dass Johann Peter Hebel in seinen Gedichten und Geschichten das Alemannische zur Klassik erhob und darin Baden, das Elsass und die deutschsprachige Schweiz vereinte, Dass moderne Schriftsteller wie Rene Schickele, Annette Kolb und Otto Plake in ihren Romanen den „europäischen Gedanken“ erstmals vorausdachten. Und dass Literaten nicht ruhen werden, aufzugreifen und darzustellen, was Zeit und Leben diktieren.
Wichtig ist Manfred Bosch auch die eindeutige geographische Bestimmung des Gebiets, das er mit seiner literarischen Feldforschung zu erfassen versuche.

Wobei er feststellt, dass heute von „oberrheinischer Literatur“ nicht mehr die Rede sein kann, sondern allenfalls von „Literatur am Oberrhein“. Bei genauer Definition sei dies „die Literatur am südlichen Oberrhein von Basel bis Karlsruhe, also vom Rheinknie und seinen umgebenden Landschaften Sundgau und Markgräflerland bis ins Unterland mit der ehemaligen badischen Landeshauptstadt“. Jedoch werde unter „Oberrhein“ gemeinhin „jene große Geschichtslandschaft verstanden, die sich unter den Staufern von Basel und seinem westschweizerisch-burgundischen Vorland bis zum mittelrheinischen Gebirge, von der lothringisch-saarländischen Grenzzone bis zum Main herausgebildet hat.
Lesen wir uns in das vorliegende Buch hinein, beweist es sieh sogleich, dass das Vergangene immer erst lebendig und greifbar wird durch Geschichten über Menschen und ihre Umgebung. Besonders, wenn sie derartig kontrastreich, vielfältig und ins Offene weisend sind wie die hier vor uns ausgebreiteten. Was wiederum mit der Region zusammenhängt, in der sie angesiedelt sind. Paradebeispiel für Bosch sind Johann Peter Hebels Kalendergeschichten, „die zwischen Liestal und Philippsburg einen oberrheinischen Landschaftsraum imaginieren, in dessen .Einheit mit Konstantinopel und Pensa, Neisse und Ragusa jedoch immer die ,ganze Welt‘ hineinspielt“. Dieses weitgefasste Verständnis von Landschaft, bei noch gesteigerter Imagination, vermittelt auch „Mein Garten Eden“ von Christoph Meckel: „Mein Garten Eden läge oberhalb süddeutscher Weingärten, aber am Meer, und hätte keinen Zaun. Ich käme den Hohlweg von der Küste herauf… liefe wieder barfuß auf stäubendem Lehm und sähe, höhersteigend, das badische Meer mit Weinschiffen und den elsässischen Inseln.“

Viel mit dieser Weitgefasstheit hat der Rhein zu tun, ein Strom auf weitem Weg bis zur Mündung ins Meer, der Landschaft. Menschen und Mentalitäten prägt. „Mein Rhein ist jung“ steht über einer Jugenderinnerung von Marie Luise Kaschnitz, Sie beschreibt ihre Schwimmübungen bei Breisach so, als seien sie auch eine heimatliche Initiation gewesen, „Das Badische ist in den Rhein gefasst“, meinte der aus Hornberg im Schwarzwald stammende Schriftsteiler Wilhelm Hausenstein. Aber er beließ es nicht bei dieser Feststellung: „Der Strom hat etwas zu bedeuten, er spricht eine Symmetrie aus…“ Am merkwürdigsten sei ihm der Rhein immer zwischen Kehl und Karlsruhe erschienen; „Da lag die Außenseite des nördlichen Schwarzwalds; sie lag dunkel; ich wünschte mich zu den Sternen und zum Mond hinauf, um von oben her hineinsehen zu können wie in eine Reliefkarte; um mit der Hand über die nächtlichen Fichtenwälder zu fahren und mit dem Zeigefinger steckenzubleiben – wo?

Im Wirtsschild zum Bären, dort an der Ecke, in Hornberg,.,“ Die Luftigkeit, die sich im südlichen Oberrheintal durchmischt, fasst Felix Moeschlin knapp zusammen;.,Schwarzwaldluft. Rheinluft, Vogesenluft,“Tami Oefken beschreibt, wie es ist. wenn das Rheintal zwischen Vogesen und Schwarzwald „mit einem schweren Nebelkissen zugestopft“ ist, und wie dann endlich durch die Burgundische Pforte der westliche Wind zieht und „die unbeweglichen Nebelkissen“ durchwühlt und auseinanderzerrt, bis sie höhersteigen, „vorerst unwillig, aber je mehr sie wandern, umso hurtiger werden sie auf ihrem Wege in die offenen Taler des Sehwarzwalds hineingezogen. Und bald kann es von den Höhen wieder so aussehen, wie es schon der Dramatiker Georg Büchner in seinem „Brief an die Familie“ am 8. Juli 1833 aus dem Straßburger Exil beschrieb: „Zu unseren Füßen lag still das dunkle Wasser… Über den Schwarzwald und die Jura schien das Gewölk wie ein schäumender Wasserfall zu stürzen, nur die Alpen standen hell darüber, wie eine blitzende Milchstraße.“ Wie Büchner hatte auch Alfred Doblin emigrieren müssen. Als er 1945 in diese Landschaft zurückkehrte, die ihm durch seine Freiburger Studienzeit vertraut war, notierte er: „Und da fließt der Rhein. Was taucht in mir auf? Rhein war früher ein Wort voller Inhalte, Jetzt fällt mir ,Krieg“ und .strategische Grenze* ein, nur Bitteres. Da liegt wie ein gefällter Elefant die zerbrochene Eisenbahnbrücke im Wasser…“ der sozialistische Schriftsteller Gustav Landauer, 1870 in Karlsruhe geboren, brachte es auf eine denkbar knappe Formel: „Politik = Geographie + Geschichte“. Er empfahl, einmal den Atlas zur Hand zu nehmen und die entsprechende Karte aufzuschlagen: „Elsass und Lothringen ist ein aus Deutschen und Franzosen gemischtes Gebiet, seit über einem Jahrtausend strittig, Grund zu wilden Kriegen, hin und her geschoben und nie zur Ruhe gekommen,“ Bei solcher Betrachtung wird klar, dass das letzte halbe Jahrhundert wohl zu den ruhigsten Zeiten gehört, die diese Gegend je sah. „Die Route jenes Verkehrs, dessen Fluktuation seit Beginn der abendländischen Geschichte niemals aussetzte“, diese „historische Strömung durch das Rheintal“, ist für Ernst Glaeser ein wahrer „Goldstrom Europas“, Dieser habe den Landschaften und den Menschen ein Gesicht gegeben, das „trotz nationalistischer Querfalten und Krähenfüße jene Einheit bewahrte, die Europa groß machte“. Der bei Oberkirch iebcnde Autor Heinz G, Huber vertritt in seinem Text
„Die Rastatter Rheinaue. Requiem auf eine Landschaft“ eine heutige Sicht. Er empfiehlt: „Man muss Landschaften ausgraben, ausgraben aus den Verschüttungen unseres Bewusstseins, ausgraben unter dem Schutt und den Verwüstungen der industriellen Zivilisation.“ Aber dazu müsse man zuerst einmal die Autobahn verlassen, ins Abseitige fahren …

Manfred Bosch:
Oberrheingeschichten, Klopfer R Meyer Verlag,
Tübingen 2010, 384 Seiten, 22 Euro.